Meine Urgroßmutter Dorline Springer kam am 22. August 1877 als Tochter des Pferdehändlers Abraham Maier und seiner Frau Rebekka, geborene Schwab, in München zur Welt. Sie wuchs mit ihrem älteren Bruder Jakob auf. Dorline besuchte vier Jahre lang die Klosterschule der Servitinnen. Am 18. Oktober 1896 heiratete sie den 13 Jahre älteren Kaufmann David Springer. Die beiden waren Cousin und Cousine: David Springers Mutter Babette und Dorlines Mutter Rebekka waren Schwestern. Die sogenannte „Hochzeitszeitschrift“ dieses freudigen Ereignisses ist noch immer in Familienbesitz und enthält viele im Münchner Dialekt selbstgedichtete Reime, die die jungen Eheleute und viele Angehörige gutmütig aufs Korn nehmen.
Dorline Springer betrieb gemeinsam mit ihrem Mann das Kurzwarengeschäft J. Springer im Rosental 19 (heute Sendlinger Straße 3), das schon Davids Vater Israel Springer besessen hatte. Auch das Haus befand sich in Familienbesitz. Dorline und David Springer bekamen zwei Töchter: 1898 Anna (Anny) und 1904 Elisabeth (Lisl). Aus Familienerzählungen ist bekannt, dass Dorline eng in die Springer-Familie eingebunden war: Besonders gut verstand sie sich mit ihren Schwägerinnen und Cousinen Lina Farnbacher, geborene Springer, die mittlerweile in Augsburg lebte, und Rosa Reis, geborene Springer, sowie deren Familien. Dies wird ihr nach dem Tod ihres Mannes David im Jahr 1930 ein großer Halt gewesen sein. Als Witwe führte Dorline Springer das Kurzwarengeschäft nicht weiter. Der Laden im Rosental 19 wurde aufgelöst und die Räume an ein Süßwarengeschäft vermietet.
Drei Jahre nach Beginn der NS-Herrschaft gelang Dorline Springers Tochter Anny 1936 mit ihrem Mann und den beiden Kindern die Emigration in die USA. Dort besuchte Dorline Springer sie im Winter 1937/38 für etwa vier Monate. Anny und ihr Mann Julius flehten sie an, nicht nach Deutschland zurückzukehren, doch sie sehnte sich nach ihrem Zuhause in München: Dort lebten ihre Tochter Lisl, ihre Verwandten, Freundinnen und Freunden. Am 25. Januar 1938 verabschiedete sie sich von ihrer Tochter in Chicago: „Gute Nacht meine geliebte Anny. Ich habe Dich so unendlich lieb. Viel, viel Glück für Euch Alle. Deine Mutter.“
Zurück in Deutschland machte sich die Verfolgung der Jüdinnen und Juden immer deutlicher bemerkbar. 1939 musste Dorline Springer in ein sogenanntes „Judenhaus“ in der Landwehrstraße 44 ziehen. Im selben Jahr wurde sie „wegen einer diskriminatorischen Angelegenheit in Stadelheim“ inhaftiert, wie sich der Münchner Rechtsanwalt Neuland nach dem Krieg erinnerte. Er vertrat Dorline Springer und besuchte sie in Haft. 1939 war ihre aus Augsburg stammende Großnichte Gertrud Farnbacher (später Karen Hillman) bei Dorline Springer zu Gast. Sie schrieb später über den Besuch: „Ich hatte Lina [Dorline] immer sehr lieb; sie war für mich wie eine dritte Großmutter. (…) Bevor ich emigrierte, war ich in München, um mich von den Verwandten zu verabschieden. Lina lud mich zu sich ein und brachte mir bei, Kartoffelnudeln zu machen. Sie dachte, das könnte mir helfen, da ich in England als Hausangestellte arbeiten sollte. Ich habe die Kartoffelnudeln seitdem nie wieder gemacht – sie sind sehr lecker und machen sehr viel Arbeit – aber damals hat mich das sehr berührt, und es berührt mich irgendwie noch bis heute. Es war so lieb und umsichtig von ihr.“
Dorline Springer wurde am 4. April 1942 im Alter von 64 Jahren in das Ghetto Piaski deportiert. Die Bedingungen im Ghetto und den umliegenden Arbeitslagern waren grauenhaft. Wie, wann und wo Dorline Springer starb, ist nicht bekannt. Sie wurde nach Kriegsende mit Wirkung zum 30. November 1942 für tot erklärt. (Text: Judith Rosenthal; Lektorat: C. Fritsche)